Vielfalt in Einheit – Deutsche Auslandsschulen im ...
08.08.2015

Vielfalt in Einheit – Deutsche Auslandsschulen im Kulturraum Europa

Linn Selle ist Trägerin des Preis "Frauen Europas" 2014. Linn Selle wurde ausgezeichnet für ihr ehrenamtliches Engagement bei den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF). Gerne möchten wir Ihre Rede vor dem Verband der Lehrer im Ausland am 5. August in Leipzig veröffentlichen.

Ich freue mich sehr über die Möglichkeit, heute vor Ihnen sprechen zu dürfen und Ihren Kongress unter dem Titel „Vielfalt in Einheit – Deutsche Auslandsschulen im Kulturraum Europa“ einzuleiten. In diesem Sinne gilt mein herzlicher Dank im Besonderen Karlheinz Wecht für die freundliche Einladung.
Aber warum stehe ich heute Nachmittag hier vor Ihnen? Weder bin ich Lehrerin, noch habe ich in meiner Jugend eine Auslandsschule besuchen dürfen. Dennoch glaube ich, dass ich, und wofür ich stehe, gut in ihr Kongress-Motto passe. Ich stehe für eine Generation, für die Europa ein Teil des Sinnhorizonts ist und die den Kulturraum Europa wirklich lebt. Außerdem stehe ich hier für eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die sich auf politischer Ebene dafür einsetzt, dass Europa stärker zusammenwächst und ein besseres, demokratischeres und weniger nationales Europa entsteht (was, zugegebenermaßen, gerade heute ein große Herausforderung ist).
Durch mein Engagement für ein geeintes Europa – vor allem im Rahmen des überparteilichen Jugendverbandes Junge Europäische Föderalisten – hoffe ich, Ihnen zu Beginn ihres Kongresses einige Ideen und Impulse aus einer jungen, europäischen und zivilgesellschaftlichen Perspektive zu geben. Diese Impulse habe ich unter den Titel „Europa lernen, Europa leben“ gestellt. Beides ist für mich ein Zweiklang. Denn in dem wir in Europa leben haben wir die Möglichkeit tagtäglich zu lernen: Mit unterschiedlichen Kulturen zusammenzuleben, unterschiedliche Traditionen kennenlernen und natürlich auch sich fremde Sprachen anzueignen. Deswegen ist gerade die Frage des „Wie leben wir heute in Europa zusammen“ und was bedeutet das für die Einigung unseres Kontinents von besonders wichtig für mich.
Ich möchte im Folgenden darauf eingehen, was in Europa heute schiefläuft und was in diesem Kontext eine „junge Perspektive“ auf das Projekt Europa sein kann. Und ich möchte darauf eingehen was ihre und unsere Verantwortung für das Projekt Europa und für unsere nachfolgenden Generationen ist. Hier interessieren mich natürlich auch Ihre Perspektiven und Erfahrungen in Ihrer täglichen Arbeit und ich würde mich sehr freuen, wenn wir hierüber noch im Laufe des Tages ins Gespräch kommen können.
Aber zunächst ein paar Worte zum Thema Ihrer Tagung, dem Kulturraum Europa. Ein zugegeben weiter Begriff. Ich möchte jetzt nicht in eine kulturphilosophische Abhandlung darüber abdriften, wo die europäische Kultur beginnt und endet. Ich glaube aber es ist wichtig zu unterscheiden – und dass wird bei der Diskussion über „Europa“ oft nicht getan – zwischen dem Kulturraum Europa – den ich als mehr oder weniger deckungsgleich mit unserem Kontinent verstehe – und dem politischen Projekt der europäischen Einigung, also der Europäischen Union, unterscheiden. Mein Traum ist, dass beides irgendwann einmal deckungsgleich sein wird. Das ist mir immer wichtig zu betonen, gerade als Mitglied eines Verbandes wo junge Menschen zwischen Türkei und Spanien organisiert sind.
Im Folgenden werde ich vor allem auf die Europäische Union eingehen und ihre Strahlkraft auf den europäischen Kulturraum.

1) Zustandsbeschreibung EU / Was läuft schief?
Vor nahezu 80 Jahren wurde das europäische Projekt aus der Taufe gehoben. Ziel war die dauerhafte Befriedung des europäischen Kontinents nach der Urkatastrophe zweier Weltkriege. Die Europäische Gemeinschaft wurde aber auch gegründet in dem festen Vertrauen der Gründerväter (leider keine Mütter), dass wir gemeinsam stärker sind und dass eine gemeinsame Wirtschaft unserem Kontinent zu Wohlstand verhelfen kann. Wenn ich mir vor diesem historischen Hintergrund unseren europäischen Kontinent heute anschaue – was sehe ich? Ich sehe vieles, aber weder einen geeinten europäischen Kulturraum noch eine politisch geeinte Europäische Union.
In der Außenpolitik ist zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren wieder der Krieg in Europa angekommen. Auch wenn die Nachrichten von den vielen anderen Krisen überschattet wurden: In der Ukraine sterben täglich Menschen in einem nahezu vergessen geglaubten postsowjetischen Großmachtstreben. Das Friedensprojekt Europa wurde lange verschrien als längst verstaubte Vision, heute ist sie aber wieder aktueller denn je. Die Frage, ob Europa den Frieden in seinem Haus garantieren kann ist wieder auf der Tagesordnung, gerade in den kleinen baltischen Staaten, die sehr konkret um ihre Souveränität und Sicherheit bangen.
Doch nicht nur in seinem Äußeren, auch im Inneren ist Europa alles andere als geeint. Vielmehr sehen wir an vielen Fronten das Auseinanderbrechen sicher geglaubter europäischer Grundkonsense. Da ist zum einen die Krise in Griechenland, die nicht nur die Schwächen der Währungsunion aufzeigt und das Ziel eines „Mehr“ an Wohlstand durch die europäische Integration nachhaltig infrage stellt. Das Beispiel Griechenland zeigt auch dass es mittlerweile wieder salonfähig ist in einem kollektiven „wir gegen sie“ zu denken.
Zum anderen gibt es die Bestrebungen des Vereinigten Königreiches, die zeigen, dass die Idee einer „immer engeren Union der Völker Europas“, wie es in den EU-Verträgen steht, zurückgedreht werden soll, um über ein „weniger Europa“ zu verhandeln.
Zu guter Letzt sehen wir außerdem erstarkende nationalistische und populistische Kräfte in Frankreich, in Dänemark, in Ungarn oder auch in Griechenland die gegen alles sind, das gegen eine vermeintliche nationale Gesinnung verstößt: Flüchtlinge, Andersdenkende, postnationales Denken.
Für mich sind diese Entwicklungen schockierend. Ich bin regelmäßig in Kontakt mit jungen Menschen aus ganz Europa und weiß dass uns bei unseren Wünschen, Sorgen und Nöten uns mehr eint denn trennt. Dass junge Norweger oft dieselben Sorgen umtreiben wie junge Deutsche und Spanier ebenso Angst vor Arbeitslosigkeit haben, wie Jugendliche aus Mazedonien oder Azerbaijan.




2) Jugend Europa
Vor dem Hintergrund der hehren Ziele beim Beginn der europäischen Einigung in den 1950ern – kann Europa folglich als gescheitert gelten? Klar ist, die Bruchkanten nehmen dramatisch zu. Auch weil viele Menschen den Eindruck haben, dass die aktuelle Europäische Union ihnen kein Mehr an Frieden und Wohlstand „liefern“ kann. Aber wie bewerten das junge Menschen: Wie steht es um die junge Generation in Europa?
Die meisten Jugendlichen, wahrscheinlich auch viele ihrer Schülerinnen und Schüler, kennen Europa nicht ohne Krise. Seit 2008 findet der politische und mediale Diskurs rund um Europa und die Europäische Union vor allem im Zeichen der Krise (& neuerdings auch des Krieges, sei es in der Ukraine oder gegen Flüchtlinge) statt. Natürlich hat es auch etwas Gutes, dass nie zuvor so viel über Europa berichtet wurde. Vor der Krise wusste schließlich niemand in Deutschland, wer der griechische Finanzminister ist oder welche Regierung gerade in Dänemark gewählt wurde. Gleichzeitig bestimmt der Krisendiskurs natürlich auch die gesamte Wahrnehmung Europas – vergessen scheinen die großen Erfolgsgeschichten wie die friedliche Einigung des Kontinents, das freie Reisen und eine gemeinsame Währung. Europa ist – zumindest medial – im Krisenmodus und viele junge Menschen kennen es nicht anders.
Hat sich in der Folge also die Jugend von Europa abgewendet? Nichts wäre verständlicher, denn gerade junge Menschen sind besonders von der Krise betroffen. Sie sind viel häufiger arbeitslos und verpassen so die wichtige Phase des Berufseintritts. Sie haben außerdem insgesamt weniger Chancen durch die fatale wirtschaftliche Situation in vielen EU-Ländern. Interessanterweise ist jedoch das Gegenteil der Fall: Junge Menschen wenden sich nicht vom europäischen Projekt ab. Sie sind vielmehr so sehr für Europa wie keine andere Altersgruppe. Während laut Eurobarometer-Umfragen in Europa allgemein und in Deutschland im Speziellen zum Beispiel knapp die Hälfte der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft ihres Landes als etwas Positives ansieht, sind es unter jungen Menschen durchschnittlich 70 Prozent, in Deutschland sind es sogar 78 Prozent.
Warum ist das so? Junge Menschen sammeln immer mehr internationale und europäische Erfahrungen. Mittlerweile nehmen jährlich 250.000 junge Menschen am Erasmus-Programm der EU teil. Unzählige bilaterale Austauschprogramme an Schulen oder durch bilaterale Jugendwerke kommen noch hinzu. Und nicht zuletzt sind die Deutschen Auslandsschulen ein Exportmodell, das das deutsche Bildungssystem in die Welt und junge Menschen aus verschiedensten Kontexten zusammenbringt. Diese vielfältigen Programme sind nicht mehr nur einer kleinen Elite vorbehalten sondern werden von vielen jungen Menschen wahrgenommen. Diese Internationalisierung führt gleichzeitig zu einer Veränderung des Erfahrungshorizonts, die weg führt vom rein nationalen Tellerrand. Sicherlich, die nationale Kultur ist konstituierend für unsere Identitäten, aber immer mehr jungen Menschen wird bewusst, dass diese nur ein Baustein ist, um unsere Welt zu begreifen. (Auch wenn das für Sie sicherlich sowieso die Normalität ist…)
Wenn also junge Menschen in gewisser Weise einen anderen, einen erweiterten Sinnhorizont haben: Was treibt sie im heutigen Europa um? Anfang dieses Jahres wurde eine Umfrage unter jungen Menschen in Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Spanien und Polen durchgeführt. Dabei wurden zwei zentrale Herausforderungen aus der Perspektive junger Menschen genannt: Zum einen die wirtschaftliche Lage und die Arbeitslosigkeit und zum anderen der Anstieg von Nationalismus in Europa. Obwohl es sich vielleicht nicht auf den ersten Blick erschließt, sind beides, die wirtschaftliche Lage und das Thema Nationalismus, wichtig, weil sie unmittelbar die Chancen junger Menschen betreffen.
Zunächst zur wirtschaftlichen Lage: Viele junge Menschen fühlen sich allein gelassen von ihren Regierungen. Das Wohlstandsversprechen, also der zentrale legitimierende Faktor für staatliches Handeln (neben der Sicherung von Frieden), droht bei jungen Menschen leerzulaufen. Wir sind die erste Nachkriegsgeneration, der es wohl nicht besser gehen wird als unseren Eltern.
Was das langfristig für ein Gemeinwesen bedeutet, wenn ein immer größer werdender Teil seiner Mitglieder nicht mehr an zentrale staatliche Versprechen glaubt, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Junge Menschen sind besonders verletzlich, weil sie gerade am Anfang ihres beruflichen Lebens stehen und es gerade hier schlimme Auswirkungen hat, wenn der Anschluss verpasst wird.
Erste Auswirkungen dieses Vertrauensverlustes in die Fähigkeiten des Staates sehen wir schon heute: In vielen EU-Staaten befinden sich populistische Parteien im Aufwind. Nicht nur dass diese – wie in Finnland, Griechenland und Schweden – schon an Regierungen beteiligt sind, sie treiben auch nationale Debatten vor sich her. Nationales „wir gegen sie“ ist in der Europäischen Union wieder an der Tagesordnung angekommen. Nicht nur in der Griechenland-Krise in der gegen die „faulen Griechen“ und die „unsolidarischen Deutschen“ gehetzt wird, sondern auch in Asylfragen oder Debatten über die „nationale Unversehrtheit“ – beispielsweise in Ungarn. Diese zum Teil nationalistische Antwort auf wirtschaftliche Unsicherheiten ist in der oben erwähnten Umfrage die zweite große Sorge junger Menschen.
In diesem Sinne befinden wir uns heute in der doppelt benachteiligten Lage, dass die heutigen wirtschaftlichen Krisen nicht nur die persönlichen Zukunftschancen vieler junger Menschen kaputtmachen, sondern auch den Aufstieg nationalistischer Parteien ermöglichen. Das sind gerade die Parteien, die das europäische Projekt ruinieren wollen, das junge Menschen aber mit großer Mehrheit wollen. Darum gefährdet Nationalismus unsere Zukunft, denn er stellt den Sinnhorizont infrage der gerade für junge Menschen ein Teil ihrer Identität ist.
Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Einigung hat einmal gesagt: „Man verliebt sich nicht in einen Binnenmarkt“ – und genau das ist sowohl das Problem als auch die Chance des heutigen Europas: Das Problem ist, dass die Europäische Union heute noch immer als ein Wirtschaftsprojekt verstanden wird und gerade die letzten Jahre nichts dazu beigetragen haben, dieses Bild großartig zu verändern. Doch es geht auch anders, denn viele junge Menschen sehen etwas anderes in diesem Europa – jenseits von Brüssel, Erasmus und dem vermeintlichen „Elitenprojekt Europa“. Es gibt ihnen die Möglichkeit frei zu reisen, sich auszutauschen, mit einer Währung zu bezahlen. Nahezu jeder junge Mensch kommt heute früher oder später mit anderen jungen Menschen aus Europa in Kontakt. Sei es im Schulaustausch, Sportaustauschen oder Auslandsaufenthalten während der Ausbildung oder im Studium.
Das bedeutet natürlich nicht, dass alle jungen Menschen automatisch überzeugte europäische Föderalisten sind – auch wenn ich mir das natürlich wünschen würde -, aber es verändert den Sinnhorizont eines jeden Einzelnen. Es zeigt, dass wir mehr sind als unsere regionale Scholle und dass wir von anderen jungen Menschen mit ähnlichen Problemen umgeben sind. Während also viele Leute in Deutschland Europa nur als „die in Brüssel“ und als Wirtschaftsunion verstehen, haben junge Menschen einen ganz anderen Bezug und eine ganz andere Perspektive auf diesen Kontinent.
Darum finde ich das Argument, dass die europäische Einigung immer noch nur ein Elitenprojekt sei vermessen, zumindest in Bezug auf meine Generation. Natürlich ist das politische Brüssel ein Elitenprojekt (genauso übrigens wie das politische Berlin), aber Europa ist viel mehr als Brüssel und bietet jungen Menschen unglaubliche Entfaltungsmöglichkeiten, die besonders Sie sicherlich in ihrer täglichen Arbeit sehen können.
3) Wie wollen wir unsere europäische Heimat unseren Kindern hinterlassen?
Wir sehen also, dass Europa heute vor großen Herausforderungen steht. Die Entscheidungen, die heute und in den kommenden Jahren getroffen werden, werden einen großen Einfluss darauf haben, wie ich und meine Kinder irgendwann in diesem Europa, auf diesem Kontinent leben werden. Zurzeit werden aber, das ist meine These, viele Probleme nicht in dem Sinne gelöst wie viele junge Menschen Europa sehen. Und hiermit meine ich nicht, dass alle jungen Menschen von Morgens bis Abends über die mögliche Aufgabenverteilung der Europäischen Kommission brüten, sondern eher unterschwellig von der Idee geprägt sind, dass wir zwar in Deutschland leben aber trotzdem Teil eines größeren Ganzen sind. Was bedeuten diese Perspektiven für das politische Europa, die europäische Einigung? Ich möchte vor allem zwei Dinge nennen die hier wichtig sind: das ist zum einen der Diskurs über Europa und zum anderen unsere Art in Europa Entscheidungen zu treffen.
A) Politik muss für Europa einstehen
Junge Menschen haben oft Freunde und Bekannte nicht nur in Deutschland sondern auch in anderen europäischen Ländern, spätestens mit dem ersten Jugendurlaub oder Schulaustausch. Und durch die digitale Welt ist es viel einfacher als noch vor 10 Jahren auch später miteinander in Kontakt zu bleiben. Deshalb ist es für uns umso ätzender, wenn auf einmal wieder in Medien und Politik von „den Deutschen“, „den Italienern“ und „den Griechen“ die Rede ist. Ich habe den Eindruck, dass sich viele politische Debatten heute vor allem darauf beschränken, unsere europäischen Völker gegeneinander aufzuwiegen und gegeneinander auszuspielen.
Doch das ist nicht nur ein mediales Problem, denn dieses nationale Denken wird noch befeuert durch die nationalen Hauptstädte, wo nur zu gern das „Brüssel Blame Game“ gespielt wird. Während gute europäische Entscheidungen als eigene Idee verkauft werden, kamen umstrittene Entscheidungen von „denen da in Brüssel“. Natürlich kann man dann auch verstehen, dass viele Bürger Europa nur als bürokratischen Moloch sehen. Gerade wo sich viele Menschen heute die Frage stellen, ob das europäische Projekt noch in der Lage ist, zur der Wohlstandsmehrung seiner Gesellschaften beizutragen und den Frieden und die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. Gerade deswegen ist es umso wichtiger, dass wir wieder zu einem anderen, ehrlicheren Diskurs zurückzukehren in dem Verantwortlichkeiten klar benannt werden und sich nicht auf ein generalisiertes Europa-Bashing zurückgezogen werden kann.
B) Europa darf nicht mehr von Nationalstaaten abhängig sein
Außerdem zeigt sich, dass ein gemeinsames Europa eigentlich mehr sein müsste als die nächtlichen Gipfelerklärungen der Staats- und Regierungschefs. In der EU haben noch immer in den meisten Bereichen die Mitgliedsstaaten die Entscheidungs- und (noch wichtiger!) die Deutungshoheit, auch wenn die von ihnen zu entscheidenden Fragen bei weitem nicht mehr auf das Wahlvolk begrenzt sind, das sie vertreten. Und so geht es bei diesen Entscheidungen – sei es die Griechenlandrettung, oder die Flüchtlingskatastrophe – nicht um europäische Antworten sondern primär um nationale Egoismen. Im Europäischen Rat sitzen 28 Egoisten, die nur an ihr eigenes Land denken, obwohl sie Entscheidungen fällen, die weit darüber hinausgehen. Im Sinne eines jeden Regierungschefs oder -chefin ist das natürlich vollkommen legitim, denn sie sitzen dort um nationale Interessen zu vertreten. Aber das Europa der Merkels und Hollandes, wo nationale Regierungschefs auf nächtlichen Marathongipfeln über die Zukunft Europas entscheiden stößt angesichts der multiplen europäischen Herausforderungen, denen wir uns heute gegenüber sehen, klar an seine Grenzen. Denn europäische Entscheidungen müssen auch europäisch getroffen werden.
Die Antwort der Populisten auf diese Zwickmühle zwischen nationaler und europäischer Verantwortlichkeit ist klar: Weniger EU und zurück zum kuschligen Nationalstaat, denn mit dem war ja alles besser. Wie schon gesagt, nur wenige junge Menschen machen sich so konkrete politische Gedanken, ich bin aber davon überzeugt, dass der allergrößte Teil von ihnen nicht zurück will zu Grenzkontrollen, einer eigenen Währung und was da sonst noch alles versprochen wird. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wenn wir wollen, dass wir in einem friedlichen und demokratischen Europa aufwachsen wollen, die Konstruktionsfehler Europas behoben werden müssen. Darum muss die Europäische Union konsequent demokratischer weiterentwickelt werden, denn die Nationalstaaten sind dazu schon lange nicht mehr in der Lage, sie wollen es sich nur noch nicht eingestehen.
4) Ihre und unsere Verantwortung
Manchmal braucht es mutige Schritte um Veränderungen anzustoßen, die die nachfolgenden Generationen prägen können. Die Gründerväter Europas haben im Jahr 1951 die Weichen für eine engere Zusammenarbeit zwischen Staaten gestellt, die sich noch weniger Jahre zuvor erbittert bekämpft hatten. Sie konnten aber aufbauen auf einer breiten zivilgesellschaftlichen europäischen Bewegung – der Pan-Europa Union – die, unterstützt von vielen damals jungen Menschen wie Albert Einstein oder Thomas Mann, in der Zwischenkriegszeit lautstark ein vereintes Europa gefordert hatte.
Natürlich hat sich unsere Gesellschaft seit den 1950ern geändert und das bedeutet auch, dass so weitreichende Entscheidungen wie die für eine politische Einigung Europas heute nicht mehr so einfach durchgesetzt werden können. Herausforderungen sind komplexer geworden und die Bürger möchten – zur Recht! – an Entscheidungen beteiligt werden. Das hat in Europafragen aber dazu geführt, dass die meisten Politiker angesichts komplexer Problemlagen und kleiner aber diskursmächtiger Europakritiker den Mut verloren haben, sich für eine großangelegte Reform Europas einzusetzen.
Allerdings ist noch nicht aller Tage Abend, denn in den letzten Jahren hat sich ebenfalls eine große gesellschaftliche Strömung entwickelt, die europäisch denkt und zum Teil auch europäisch lebt.
Wenn also die Politik nicht will oder sich nicht traut Europa zum Besseren zu verändern, muss die europafreundliche Zivilgesellschaft aufstehen und sich deutlich positionieren. Seien es interkulturelle Ferienlager, die deutsche Tschernobyl-Hilfe, oder Städtepartnerschaften. Europa findet heute an ganz vielen Orten in ganz Deutschland (und Europa) statt und wird von vielen engagierten Menschen getragen, die sich von einer europäischen Einheit in Vielfalt mehr versprechen als ein „die bösen Deutschen“ gegen „die faulen Griechen“. Nur wenn wir alle diese Verantwortung für uns annehmen nicht nur in unserem kleinen Raum zu wirken, sondern auch ein positives Gegenmodell zu den Europakritikern aufbauen, kann eine gesellschaftliche Positivbewegung aufgebaut und die Grundlagen dafür gelegt werden, dass Veränderungen angegangen werden.
Zugespitzt könnte man also sagen, dass ein relativ großer Teil der Zivilgesellschaft heute weiter ist als die Politik.
Deswegen ist es so wichtig, dass sich neben den eben skizzierten großen politischen Linien an denen entlang sich Europa verändern muss, auch wir alle begreifen, dass wir alle eine Verantwortung für das Gemeinwesen haben, in dem wir leben. Deswegen müssen auch wir uns heute die Frage stellen, wie wir diesen Kontinent unseren Enkelkindern hinterlassen wollen. Und diese Verantwortung trifft Sie natürlich auch in einem besonderen Maße, da Sie die – wie ich finde – großartige Aufgabe haben, junge Generationen zu prägen und auf ihrem Weg zumindest ein Stück weit zu begleiten.
In den letzten Wochen wird in den deutschen und europäischen Medien zunehmend über die „Wiederkehr des hässlichen Deutschlands“ diskutiert, wie Joschka Fischer vor kurzem schrieb. Er meinte damit das starrsinnige Verfolgen eines vermeintlichen deutschen Interesses in Europa. Dabei haben gerade wir Deutsche eine besondere Verantwortung für dieses Europa. Und in diesem Sinne meine ich liegt auch eine besondere Last auf Ihren Schultern: Sie sind letztlich nicht nur deutsche Botschafter im Kleinen in ihren Schulen und haben die Aufgabe für Deutschland zu werben, sondern müssen sich wahrscheinlich auch rechtfertigen für Entscheidungen der deutschen Regierung.
Ich hoffe aber sehr, dass Sie sich auch als Botschafter für dieses Projekt Europa sehen! Denn Sie, die vielen Hundert Lehrer an Auslandsschulen in der ganzen Welt haben die einzigartige Chance, diese große Idee der europäischen Einigung an junge Menschen zu vermitteln, die schon qua ihres Aufwachsens eine internationale Perspektive mitbringen.
Je nachdem an welchem Ort der Welt sie lehren, gelehrt haben oder lehren werden, haben Sie die Möglichkeit, Europa direkt erlebbar zu machen, denn schließlich sind Auslandsschulen die Prototypen eines gemeinsamen Zusammenlebens unterschiedlicher Nationalitäten. Durch ihr Engagement können Sie jungen Menschen neue Perspektiven öffnen und sie motivieren, in vielerlei Hinsicht über den Tellerrand zu schauen und sich für ihr Gemeinwesen einzusetzen. Denn Europa braucht heute nichts mehr als eine europäische Zivilgesellschaft, die sich genau hierfür, für ihr Gemeinwesen, einsetzt.
Sie als Auslandslehrerinnen und -lehrer sind hier in einer besonderen Position, denn sie müssen internationale Verständigung nicht lehren, sondern leben sie gemeinsam mit ihrer Schülerschaft. Das ist unfassbar wertvoll um einem eindimensionalen Verständnis der Welt in der wir leben entgegenzuwirken.
Auch wenn ich viel auf politische Reformen eingegangen bin, das „Projekt Europa“ war nicht immer ein rein politisches Projekt und sollte auch heute mehr sein und in den gesamten Kulturraum Europa wirken. Und gerade im Sinne der Verständigung zwischen unterschiedlichen Nationalitäten können wir viel von Menschen lernen die Europa nicht nur lernen sondern auch leben. In diesem Sinne hoffe ich sehr, dass die derzeitige Mutlosigkeit unserer Politiker/innen durch eine Zivilgesellschaft ausgeglichen wird, die nicht nur Europa lebt sondern auch lernt klar und deutlich zu sagen, in was für einem europäischen Haus sie leben möchte.
Vielen Dank.